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Hubert war Student. Er studierte Architektur und nebenbei noch etwas Geschichte. Und da er mit dem monatlichen Scheck seiner Eltern mehr schlecht als recht auskam, blieb ihm nichts anderes übrig, als in den Semesterferien zu arbeiten. Hubert arbeitete als Fremdenführer. Er kommentierte die Stadtrundfahrten, die täglich für Touristen und auswärtige Besucher in den Autobussen der Städtischen Verkehrsbetriebe unternommen wurden. Auf diese Art und Weise konnte er seine Kenntnisse über die gut erhaltenen alten Kapellen, Bürgerhäuser, Kirchen und Denkmäler der Stadt loswerden. So hatte er auf alle Fälle das Gefühl, nicht umsonst zu studieren. Es war an einem Mittwoch. Hubert stand neben dem Autobus, in dem die Rundfahrt stattfinden sollte, und wartete auf Kundschaft. Der Busfahrer stand ein wenig abseits, blätterte ab und zu gelangweilt eine Seite seiner Zeitung um und wartete ebenfalls. In einer Viertelstunde sollte die Rundfahrt beginnen, und bisher hatten sich nur acht Interessenten für die Sehenswürdigkeiten der Stadt eingefunden. Etwas verlassen saßen sie in dem Bus, der über vierzig Passagiere fasste. Eine Dame erregte Huberts Aufmerksamkeit. Sie war offensichtlich um die Jahrhundertwende geboren und schien ein sehr eigenwilliges Leben zu führen. Sie war in Schwarz gekleidet, trug altmodische Knöpfelschuhe, einen riesigen schwarzen Hut mit Schleier und dazu ein großes gehäkeltes Schultertuch. Sie spazierte auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig des Busbahnhofs auf und ab, wobei sie ihre schon etwas abgegriffene Handtasche kampflustig baumeln ließ. Hubert fasste sich ein Herz und ging zu ihr hinüber. »Verzeihung!« sagte er. »Vielleicht wünschen gnädige Frau, eine Rundfahrt mitzumachen, um die Sehenswürdigkeiten der Stadt kennenzulernen?« Worauf die Dame Hubert missbilligend von oben bis unten musterte. Schließlich verkündete sie hoheitsvoll: »Junger Mann, ich bin eine der Sehenswürdigkeiten dieser Stadt!«
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Sonntag, 6. Juli 2025
Sehenswürdigkeiten
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