Mittwoch, 31. März 2021

Story der Woche

Der letzte Zug

Story von C.H. Lumley
   
Es war kurz vor zwei Uhr nachts, als Nick die Bahnhofskneipe betrat. Es war ein großes, kaltes Lokal, ein ziemlich dreckiges dazu, doch Nick kümmerte sich nicht um die abstoßende Atmosphäre, die ihm entgegenschlug, als er die Pendeltür aufstieß.
   Der letzte Zug ging um halb vier, und bis dahin hatte er noch eine Menge Zeit. Als er eingetreten war, hatte der Wirt die halbe Beleuchtung ausgeschaltet. Er warf Nick einen abschätzenden Blick zu, bevor er hinter der Theke hervorkam und damit begann, die Stühle hochzustellen. Bis auf den Mann und die Trau am Tisch links neben dem Eingang ist die Kneipe leer.
   Nick stellte sich an die Theke und warf einen Schilling auf das polierte Messing. Er würde Whisky trinken, um den schalen Geschmack im Mund loszuwerden. Weiß der Teufel warum er auf die Idee gekommen war, in Kirkshore auszusteigen, als der Zug, der ihn eigentlich nach Edinburgh hatte bringen sollen, plötzlich hier gehalten hatte. Nur weil er hier aufgewachsen war - das war noch lange kein Grund, einfach aus dem Zug zu springen. Aber Nick fiel keine bessere Erklärung ein. Er hatte nicht gewusst, dass der Zug hier halten würde und als das Bahnhofsschild plötzlich aufgetauchte, war es ihm als ganz selbstverständlich erschienen, dass er ausstieg und einen Bummel durch die Stadt machte, um nachzusehen, was sich in zwanzig Jahren seiner Abwesenheit alles verändert hatte.
   Ein zweites Geldstück fiel klappernd auf die Theke. Der Mann vom Tisch neben dem Eingang hatte sich nah an Nick geschoben und wartete darauf, dass der Wirt mit den Stühlen fertig wurde und sie endlich bediente.
   Nick schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und bedankte sich nicht einmal für das brennende Streichholz, dass ihm der Unbekannte hinhielt.
   Es hatte sich eine ganze Menge verändert in Kirkshore.
   Am allermeisten die Menschen. June, mit der er vor einen Vierteljahrhundert in die Tanzschule gegangen war.  Eine alterslose Figur, die die Treppen in einem sechsgeschossigen Mietshaus bohnerte - und sich mit den frechen Gören herumärgerte, die sie mit einen Stahlarbeiter von der Werft hatte.
   Dick, der mit siebzehn beinahe in die literarische Beilage der TIMES gekommen war. Ein kurzsichtiger, grauhaariger, nach Nikotin und aufdringlichem Parfüm riechender Redakteur bei der Lokalzeitung. Jack, Bellinda, Gwynn, Jimmy und all die anderen... Nick ließ die halbgerauchte Zigarette auf den Boden fallen und zertrat sie. Drehte den Absatz auf der Kippe hin und her, bis die Tabak- und Papierreste eins würden mit der undefinierbar schmutzigen Farbe des Bodens.
   Der Wirt kam hinter die Theke zurück.
   »Whisky!«, sagte Nick. Mürrisch nahm der Wirt ein Glas von dem Geschirrtuch. Er hatte die Gläser bereits gespült, poliert und umgekehrt aufgestellt. Nachdem er eingeschenkt hatte, knallte er Nick den Drink hin und schob die Flasche in ihr Fach zurück. Dann nahm er einen Glaskrug und öffnete den Bierhahn, indem er ihn zur Seite schlug.
   Als der Bursche neben Nick sein Bier hatte, sagte die Frau am Tisch irgendetwas. Nick verstand es zuerst nicht, er musste die einzelnen Brocken, die er aufgeschnappt hatte, zusammensetzen. »He Kleiner, setz dich doch'n bisschen zu uns!«
   Nick drehte sich um. Er schätzte sie auf Mitte vierzig. Ihren Beruf konnte man an ihrer Kleidung ablesen. Rote Lackstiefel, Minirock, halboffene Bluse. In dem zerfallenen Gesicht steckte zwischen den unsauber geschminkten Lippen eine Zigarette. Die Augen mit dem verschmierten grünen Lidschatten wegen des Rauchs halb zugekniffen.
   »Komm doch her!«, forderte sie ihn abermals auf.
   Nick trank sein Glas aus, stellte es dem Wirt vor die putzende Hand und ging hinüber. Der Bursche folgte ihm, das Bier in der Hand. Am Tisch schob er Nick einen Stuhl hin.
   »Hey!«, sagte Nick.
   Die Frau nickte. »Das ist Will!«, stellte sie den Burschen vor. »Ich heiße Alice.«
   Nick sah den Burschen an. Er war etwas älter als die Frau, strohblond, dünn, drahtig, mit weichen Gesichtszügen und gepflegten Händen. Wasserblaue, weit aufgerissene Augen. Sein Anzug war schon seit ein paar Jahren aus der Mode, sah getragen, aber trotzdem sauber aus.
   »Ihr könnt Nick zu mir sagen!«, erwiderte er und setzte sich.
   »Nett, dich hier zu treffen!«, murmelte die Frau.
   Der Blonde hatte sein Bier ausgetrunken. Er knallte den Krug auf den Tisch.
   »Ich geb' eine Runde!«, rief er dem Wirt zu. »Whisky!«
   Der Wirt fluchte hinter der Theke, während er die Gläser eingoss. Nick schwieg. Der Wirt brachte die Gläser auf einen Tablett und schob   jedem eins hin. Der Blonde gab ihm ein paar Geldstücke.
   Noch einige Zeit nachdem sich der Wirt entfernt hatte herrschte Schweigen.
   »Kummer?«, fragte die Frau schließlich. Sie zog an ihrer Zigarette, inhalierte tief und steckte die Kippe dem Blonden zwischen die Lippen.
   »Wenn schon«, brummte Nick aggressiv. »Was wisst ihr denn schon davon?!«
   »Wenn man sich ausspricht, fühlt man sich besser!«, sagte der Blonde mit unerwartet sanfter Stimme. Er versuchte Nicks Hand zu berühren, doch Nick zog sie zurück wie vor einer Spinne.
   »Was soll's?«, sagte Nick. »Ihr könnt sowieso nichts dran ändern!«
   »Also, ich muß es immer jemandem erzählen, wenn ich Sorgen habe!«, meinte der Blonde traurig. »Zusammen kommt man leichter drüber weg!«
   »Er will aber nicht, kannst du das nicht sehen?« widersprach ihm die Frau und griff. nach Nicks Hand. Er ließ es geschehen. »Ich habe auch niemanden, mit dem ich reden kann!«, fuhr sie fort. »Und ich bin auch immer allein damit fertiggeworden!«
   »Trotzdem ...«
   »Ach halt doch die Klappe, Willie!«, schnauzte der Wirt von der Theke her. »Seht lieber zu, dass ihr nach Hause kommt!«
   »Auf mich wartet sowieso niemand!«, beklagte sich der Blonde.
   »Das is! deine Sache!«
   »Warum habt ihr heute bloß alle so eine beschissene Laune?«, murrte der Blonde. |
   »Ich nicht!«, versicherte die Frau lustlos.
   Nick trank den Whisky, den ihm der Blonde gekauft hatte.
   »Kommst du noch auf einen Sprung zu mir?«, fragte der Blonde, als habe er neue Hoffnung geschöpft. »Wie können es uns gemütlich machen und...«
   »Hau ab!« Nick stieß das leere Glas von sich, so dass es über den halben Tisch schlidderte. Der Blonde sah ihn traurig an. »Du sollst abhauen!«, brüllte Nick auf einmal. »Scher dich zum Teufel!«
   Der Blonde schien zusammenzuschrumpfen.
   »Noch ein Whisky!«, rief Nick dem Wirt zu.
   »Ihr kriegt nichts mehr!«, schrie der feiste Mann hinter der Theke. »Macht, dass ich nach Hause kommt. Ich will schließlich auch mal ins Bett!« Er knallte ein leeres Glas auf den Tresen.
   Wie auf ein verabredetes Zeichen erhoben sich die drei und verließen grußlos die Kneipe. Draußen standen sie vor dem Bahnhof Die Frau legte ihren Arm um Nick. Es war kalt, doch sie schien es nicht zu spüren. Nick nahm eine Zigarette, rauchte sie an und schob sie zwischen die Lippen, deren Makeup im Schein der wenigen Lampen wie schwarz aussah. Der Blonde neben ihm sagte etwas, doch er hörte nicht darauf. Er legte seinen Arm um ihre Schulter, redete mit ihr.
   Schließlich wandte der Blonde sich beleidigt ab und ging. Die beiden sahen ihm nach, bis er in einer der Nebenstraßen verschwand.
   »Wie wär's?«, fragte die Frau.
   Nick antwortet nicht. Sie stehen vor dem Fahrplan. Bis zu seinem Zug hat Nick noch etwas Zeit.
  


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C.H. Lumley: Der letzte Zug
© by author / R.Jahn
Published by krimiladen.blogspot.com
3/2021
Verbreitung nur mit Genehmigung
    
   
    
   

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